4. Problem von der Geraden als kürzester Verbindung zweier Punkte. (David Hilbert)

Eine andere Problemstellung, betreffend die Grundlagen der Geometrie ist diese. Wenn wir von den Axiomen, die zum Aufbau der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nötig sind, das Parallelenaxiom unterdrücken, bezüglich als nicht erfüllt annehmen, dagegen alle übrigen Axiome beibehalten, so gelangen wir bekanntlich zu der Lobatschefskijschen (hyperbolischen) Geometrie; wir dürfen daher sagen, daß diese Geometrie insofern eine der Euklidischen nächststehende Geometrie ist. Fordern wir weiter, daß dasjenige Axiom nicht erfüllt sein soll, wonach von drei Punkten einer Geraden stets einer und nur einer zwischen den beiden anderen liegt, so erhalten wir die Riemannsche (elliptische) Geometrie, so daß diese Geometrie als eine der Lobatschefskijschen nächststehende erscheint. Wollen wir eine ähnliche principielle Untersuchung über das Archimedische Axiom ausführen, so haben wir dieses als nicht erfüllt anzusehen und gelangen somit zu den Nicht-Archimedischen Geometrien, die von Veronese und mir untersucht worden sind. Die allgemeinere Frage, die sich nun erhebt, ist die, ob sich noch nach anderen fruchtbaren Gesichtspunkten Geometrien aufstellen lassen, die mit gleichem Recht der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nächststehend sind, und da möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen Satz lenken, der von manchen Autoren sogar als Definition der geraden Linie hingestellt worden ist und der aussagt, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Der wesentliche Inhalt dieser Aussage reduzirt sich auf den Satz von Euklid, daß im Dreiecke die Summe zweier Seiten stets größer als die dritte Seite ist, einen Satz, welcher wie man sieht, lediglich von elementaren d.h. aus den Axiomen unmittelbar entnommenen Begriffen handelt, und daher der logischen Untersuchung zugänglicher ist. Euklid hat den genannten Satz vom Dreieck mit Hülfe des Satzes vom Außenwinkel auf Grund der Congruenzsätze bewiesen. Man überzeugt sich nun leicht, daß der Beweis jenes Euklidischen Satzes allein auf Grund derenigen Congruenzsätze, die sich auf das Abtragen von Strecken und Winkeln beziehen, nicht gelingt, sondern daß man zum Beweise eines Dreieckscongruenzsatzes bedarf. So entsteht die Frage nach einer Geometrie, in welcher alle Axiome der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie und insbesondere alle Congruenzaxiome mit Ausnahme des einen Axioms von der Dreieckscongruenz (oder auch mit Ausnahme des Satzes von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck) gelten und in welcher überdies noch der Satz, daß in jedem Dreieck die Summe zweier Seiten größer als die dritte ist, als besonderes Axiom aufgestellt wird.

Man findet, daß eine solche Geometrie thatsächlich existirt und keine andere ist als diejenige, welche Minkowski (Leipzig 1896.) in seinem Buche ``Geometrie der Zahlen'' aufgestellt und zur Grundlage seiner arithmetischen Untersuchungen gemacht hat. Die Minkowskische Geometrie ist also ebenfalls eine der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nächststehende; sie ist im Wesentlichen durch folgende Festsetzungen charakterisirt: Erstens: Die Punkte, die von einem festen Punkt O gleichen Abstand haben, werden durch eine convexe geschlossene Fläche des gewöhnlichen Enklidischen Raumes mit O als Mittelpunkt repräsentirt. Zweitens: Zwei Strecken heißen auch dann einander gleich, wenn man sie durch Parallelverschiebung des Euklidischen Raumes ineinander überführen kann.

In der Minkowskischen Geometrie gilt das Parallelenaxiom; ich gelangte bei einer Betrachtung (Mathematische Annalen, Bd. 46 S. 91.), die ich über den Satz von der geraden Linie als kürzester Verbindung zweier Punkte anstellte, zu einer Geometrie, in welcher nicht das Parallelenaxiom gilt, während alle übrigen Axiome der Minkowskischen Geometrie erfüllt sind. Wegen der wichtigen Rolle, die der Satz von der Geraden als kürzester Verbindung zweier Punkte und der im wesentlichen aequivalente Satz von Euklid über die Seiten eines Dreiecks nicht nur in der Zahlentheorie, sondern auch in der Theorie der Flächen und in der Variationsrechnung spielt, und da ich glaube, daß die eingehendere Untersuchung der Bedingungen für die Gültigkeit dieses Satzes ebenso auf den Begriff der Entfernung wie auch noch auf andere elementaren Begriffe z.B. den Begriff der Ebene und die Möglichkeit ihrer Definition mittelst des Begriffes der Geraden ein neues Licht werfen wird, so erscheint mir die Aufstellung und systematische Behandlung der hier möglichen Geometrien wünschenswert.

Im Fall der Ebene und unter Zugrundelegung des Stetigkeitsaxioms führt das genannte Problem auf die von Darboux (Leçons sur la théorie générale des surfaces. Bd. 3, Paris 1894, S. 54.) behandelte Frage, alle Variationsprobleme in der Ebene zu finden, für welche sämtliche Geraden der Ebene die Lösungen sind - eine Fragestellung, die mir weitgehender Verallgemeinerungen (Vgl. die interessanten Untersuchungen von A. Hirsch, Mathematische Annalen, Bd. 49 und 50.) fähig und würdig erscheint.

Hilbert's Problems, English.   Hilberts Probleme, deutsch.


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